Sorger, Karin: Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit - Der lange Weg von Ost nach West

Karin Sorger

Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit

Der lange Weg von Ost nach West

Preis:

18,00 € *

Titel:Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit
Untertitel:Der lange Weg von Ost nach West
ISBN:978-3-86933-151-5
Format:14 x 21,8 cm
Bindung:fest gebunden
Anzahl der Abbildungen:25 Abbildungen, davon 13 Fotos
Artikelnummer:105-372-00
Verlag:Helios-Verlag
Seitenzahl:219

Beschreibung:


... das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut.

Fast dreißig Jahre DDR-Diktatur hinterlassen Spuren im Leben eines Menschen, prägen ihn. Der mutige Versuch einer allein erziehenden, privilegiert erscheinenden Pathologin, mit ihrer kleinen Tochter die stark gesicherte innerdeutsche Grenze zu überwinden, scheitert. Sie gerät in die Fänge der Staatssicherheit und muss eine Freiheitsstrafe im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck verbüßen. Durch den Häftlingsfreikauf der Bundesregierung gelangt sie 1977, später auch ihre Tochter in den Westen, wo für beide ein „zweites“ selbstbestimmtes Leben mit vielfältigen Herausforderungen beginnt. Dieser Zeitzeugen-Bericht gibt dem Leser einen exemplarischen Einblick in das Leben von Ärzten und Wissenschaftlern in der Praxis und an der Universität im Osten und im Westen des geteilten Deutschlands.

Vorwort
Der Rausch der Freiheit
Die Erfahrungen mit politischer Strafjustiz im SED-Staat zählten, neben der Kritik an staatlicher Willkür, an ineffektiver Planwirtschaft und an wachsender Umweltverschmutzung, zu den verbotenen Themen in der DDR-Literatur 1949-89. Wie Monika Marons Roman „Flugasche“ (1981), um ein Beispiel zu nennen, über lebensgefährliche Rauchgifte im Bitterfelder Industrierevier von keinem DDR-Verlag gedruckt werden konnte, so durften auch politische Häftlinge, die es offiziell überhaupt nicht gab, bei Strafe erneuter Festnahme und Verurteilung wegen „staatsfeindlicher Hetze“, von ihren Erlebnissen in Gefängnissen, Zuchthäusern und Arbeitslagern nicht einmal im Verwandten- und Freundeskreis berichten.
Eine Lockerung dieses Verbots gab es erst 1989, als Christoph Heins Erzählung „Der Tangospieler“ am 18. Mai in der Ostberliner Buchhandlung „Internationales Buch“ der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Dass dieses Buch überhaupt erscheinen konnte, war dem absehbaren Untergang des DDR-Sozialismus geschuldet, der noch im gleichen Jahr mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November erfolgte.
In Heins Buch geht es um das Schicksal des Historikers Dr. Hans-Peter Dallow, Dozent für Neuere Geschichte an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, der 1966 wegen „Verächtlichmachung Walter Ulbrichts“ verhaftet und zu 21 Monaten Strafhaft verurteilt wird. Im Februar 1968 kehrt er aus dem Zuchthaus Waldheim nach Leipzig zurück und nimmt später eine Stelle als Kellner auf Hiddensee an, wo er mehr verdient als in seinem erlernten Beruf. Von den Zuständen im Zuchthaus Waldheim aber erfährt der Leser nichts, zumal die Handlung in die Zeit des SED-Vorsitzenden Walter Ulbricht 1949-71 verlegt ist und dadurch relativiert wird.
Von den weit über hundert Romanen und Erlebnisberichten aus DDR-Gefängnissen war Eva Müthels Roman „Für dich blüht kein Baum“ (1957) der erste. Die 1927 im thüringischen Nordhausen geborene Studentin der Germanistik hatte Flugblätter verteilt und war 1948 zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Nach sechs Jahren in den Zuchthäusern Bautzen, Hoheneck, Brandenburg und im Konzentrationslager Sachsenhausen wurde sie im Januar 1954 freigelassen und floh nach Westberlin.
Das Zuchthaus Hoheneck in Stollberg/Erzgebirge wurde schon 1862 als „sächsisches Weiberzuchthaus“ erwähnt. Es war die größte Haftanstalt für straffällig gewordene Frauen im Königreich Sachsen. Ein Jahr nach DDR-Gründung, 1950, wurde es zum Gefängnis für weibliche politische Häftlinge, ausgelegt für 600 Frauen. Diese Belegung wurde aber fast immer überschritten, zeitweise waren die Zellen mit mehr als 1600 Gefangenen überfüllt. Zwischen politischen und kriminellen Häftlingen wurde, wie auch in anderen DDR-Zuchthäusern, nicht unterschieden, im Gegenteil: die politischen wurden für weitaus gefährlicher gehalten, da sie, so wurde argumentiert, die „sozialistische Gesellschaftsordnung“ hätten abschaffen und dadurch den Dritten Weltkrieg hätten auslösen wollen.
Das erste Buch, worin ausführlich über die Zustände im Zuchthaus Hoheneck informiert wurde, waren Ulrich Schachts „Hohenecker Protokolle“ (1984). Schacht, dessen Mutter selbst eine zehnjährige Haftstrafe in Hoheneck abzubüßen hatte, wurde 1951 im Zuchthaus Hoheneck geboren und ist in Wismar, der Heimatstadt seiner Mutter, aufgewachsen. Während seines Theologiestudiums wurde er wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sieben Jahren Strafhaft verurteilt und 1976 aus dem Zuchthaus Brandenburg freigekauft, seit 1998 lebt er in Schweden. In seinem Buch hat er, der als Lyriker bekannt wurde, elf Schicksale Hohenecker Frauen, darunter das seiner Mutter und das seiner Ehefrau, aus den Jahren 1950 bis 1983 gebündelt.
Im gleichen Jahr 1984 erschien das Hoheneck-Buch „Stell dich mit den Schergen gut“ der 1937 geborenen Dresdnerin Ellen Thiemann, die ein halbes Jahr nach der Entlassung, im Dezember 1975, ausreisen durfte und heute in Köln lebt. Als Ehefrau des DDR-Sportreporters Klaus Thiemann in Ostberlin, der für die „Staatssicherheit“ arbeitete und über den sie später das Buch schrieb „Der Feind an meiner Seite“ (2005), erlebte sie in Hoheneck, mit welcher Grausamkeit der SED-Staat Bürger bestrafte, die „Verbrechen“ wie „Republikflucht“ begangen hatten.
Die 1951 in Leipzig geborene Geigerin Eva-Maria Neumann verbrachte nach der Verurteilung 1977/78 anderthalb Jahre im Zuchthaus Hoheneck, bevor sie freigekauft wurde. Seit 1982 ist sie Geigenlehrerin an der „Städtischen Musikschule“ in Aachen und Mitglied im „Aachener Kammerorchester“. Über ihre Jahre in Hoheneck hat sie drei Jahrzehnte später das Buch „Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit. Geschichte einer gescheiterten Republikflucht“ (2007) veröffentlicht. Um ihre dreijährige Tochter nicht der sozialistischen Erziehung in Kindergarten und Schule auszusetzen, plante sie seit 1976 mit ihrem Ehemann Dr. Rudolf Neumann, der ihr Geigenlehrer an der Musikhochschule war, die „Republikflucht“ über Hirschberg nach Bayern. Am 19. Februar 1977 wurde sie mit Mann und Tochter aus dem Kofferraum des Fluchtautos geholt, der „Staatssicherheit“ in Leipzig überstellt und zu drei Jahren Strafhaft verurteilt. Während der Haft erkrankte die Geigerin an schwerem Gelenkrheuma und musste befürchten, ihren Beruf nicht mehr ausüben zu können.
Das vorerst letzte Hoheneck-Buch haben Dorothea Ebert und ihr Bruder Michael Proksch unter dem Titel „Und plötzlich waren wir Verbrecher. Geschichte einer Republikflucht“ (2010) veröffentlicht. Die Dresdner Musikstudenten und Geschwister Michael Proksch (1958) und Dorothea Ebert (1960) unternahmen im Sommer 1983 mit zwei Freunden einen Fluchtversuch über die bulgarisch-jugoslawische Grenze. Sie wurden gestellt, verhaftet und nach wochenlangen Verhören in bulgarischen Gefängnissen an die „Staatssicherheit“ in Ostberlin ausgeliefert. Anfang 1984 zu mehrjährigen Haftstrafen wegen „Republikflucht“ verurteilt, wurden die vier Studenten zur Jahreswende 1984/85 von der Bundesregierung in Bonn freigekauft. Dorothea Ebert arbeitet seit 1987 als Dozentin an der „Hochschule für Musik und Theater“ in München und ist seit 1988 als Geigerin Mitglied des „Bayerischen Staatsorchesters“. Michael Proksch lebt als freischaffender Komponist in München.
Ihr Buch ist aus drei wechselnden Perspektiven geschrieben, in denen die gescheiterte Flucht sowie die nachfolgende Haft Michaels in Cottbus und Brandenburg-Görden und die Dorotheas in Hoheneck/Erzgebirge geschildert werden; die dritte Perspektive ist die der Mutter Gertrud in Dresden, die nach dem Mauerfall 1989 aufgeschrieben hat, wie sie die Verhaftung ihrer beiden Kinder erlebte.
Karin Sorgers Buch ist weitaus breiter ausgelegt als andere Berichte über DDR-Gefängnisse, so spannend sie auch sein mögen. Ihr Buch ist eine Autobiografie, die auch ohne das Hoheneck-Erlebnis ein lesenswertes Buch geworden wäre. Während in anderen Haftbüchern fast immer nur Verhaftung, Verurteilung, Strafvollzug und Entlassung beschrieben werden, umfasst Karin Sorgers Bericht die Vorgeschichte der Verhaftung von der Kindheit in Magdeburg bis zur Einlieferung in Hoheneck.
Die Verfasserin, Jahrgang 1939, ist als „Karin Papendieck“ bei Adoptiveltern in Magdeburg aufgewachsen. Ihr Vater war Bauingenieur und besaß eine Firma für Reparaturen und Neubauten von Fabrikschornsteinen, eine für die DDR-Wirtschaft unentbehrliche Spezialfirma. Karin Sorger erlebte als sechsjähriges Kind den Großangriff der angloamerikanischen Bomberflotte auf Magdeburg am 16. Januar 1945, bei dem 90 Prozent der Innenstadt zerstört wurden und nahezu 2500 Einwohner ihr Leben verloren, den Einmarsch der Amerikaner am 18. April und deren Ablösung durch Truppen der „Roten Armee“ am 4. Juli. Die Firma des Vaters hatte einen Zweigbetrieb in Oberkochen/Ost-Alb, wohin die Familie 1950 übersiedeln wollte, zumal der Vater neben dem DDR-Ausweis auch einen westdeutschen Pass besaß. Die Fluchtpläne zerschlugen sich aber, als die Mutter 1950 nach einer Operation starb, noch keine 48 Jahre alt, und der Vater 1952 eine zweite Ehe eingegangen war.
Karin Sorger wurde zwar am Palmsonntag 1953 konfirmiert, war aber zugleich auch Mitglied der „Thälmannpioniere“, der Vorstufe des Staatsjugendverbands „Freie Deutsche Jugend“, der man mit 14 Jahren beitreten konnte. Diese Doppelmitgliedschaft in christlicher Kirche und atheistisch ausgerichtetem Jugendverband war zwingend notwendig, weil sie sonst nicht, trotz bester Schulnoten, im Herbst zur Geschwister-Scholl-Oberschule zugelassen worden wäre, zumal sie aus einem „bürgerlichen“ Elternhaus kam und ihr Vater als „Kapitalist“ galt. In dieser Zeit erfuhr sie von ihrem Vater auch den Umstand ihrer Adoption in ihren sehr frühen Jahren, was sie aber schon selbst herausgefunden hatte.
Als sie am 17. Juni 1953 mit dem Fahrrad durch die Magdeburger Innenstadt fuhr, sah sie auch die gegen die DDR-Regierung demonstrierenden Arbeiter, war aber zu jung, um sich diese hochpolitischen Vorgänge erklären zu können. Im Sommer 1957 bestand sie das Abitur mit „Auszeichnung“ und vermerkte in ihren Bewerbungsunterlagen für die Universität, sie wolle, da sie auch eine gute Russisch-Schülerin war, entweder Slawistik oder Medizin studieren. Vor Beginn des Studiums stand der mehrwöchige Einsatz im Braunkohletagebau in der Umgebung von Leipzig. Auch während der Semesterferien waren für die Studenten immer mehrere Wochen Arbeitseinsätze zur Ernte verpflichtend, oder aber Einsatz in der Wische, einem Überflutungsgebiet der Elbe in der Altmark, dessen Entschlammung 1958/62 zum „Jugendobjekt“ erklärt worden war. Der Schriftsteller Joachim Wohlgemuth (1932-1996) hat darüber den später auch verfilmten Roman „Egon und das achte Weltwunder“ (1962) geschrieben. An den Abenden nach den „freiwilligen“ Ernteeinsätzen, die mit dem Studium nicht das Geringste zu tun hatten, erfolgte die vormilitärische Ausbildung durch die 1950 gegründete „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST): Die Studenten sollten schießen lernen, um den kriegslüsternen „Klassenfeind“ in Westdeutschland abwehren zu können.
Karin Sorger studierte seit 1957 Medizin an der Leipziger Karl-Marx-Universität, wo hervorragende Professoren ihre akademischen Lehrer waren. Allerdings wurde ihr das Stipendium verweigert, weil ihr Vater nicht der Arbeiterklasse angehörte. Als er später aber mit seinem Betrieb einer „Produktionsgenossenschaft des Handwerks“ (PGH) beitrat, wurde sie plötzlich zum Arbeiterkind, dem nun ein Stipendium zustand.
Das Jahr 1961 wurde für ihr privates und berufliches Leben zum Schicksalsjahr. Im Januar 1961, als sie gerade während der Semesterferien zu Besuch in Magdeburg war, erlitt ihr Vater einen Schlaganfall und starb an einer Lungenembolie. Wenige Wochen zuvor hatte sie ihre Leipziger Vermieter aufgelöst in der Wohnung vorgefunden: Sie hatten erfahren, dass sie von der „Staatssicherheit“ verhaftet werden sollten, packten nur das Nötigste ein und flohen nach Westberlin. Karin lebte nun allein in der verlassenen Wohnung, durfte aber ihr Zimmer behalten, während die Räume der „Republikflüchtigen“ von der „Staatssicherheit“ versiegelt wurden.
Schon im zweiten Studienjahr hatte sie einen Arztsohn aus Greiz kennengelernt, der aus ähnlichen Familienverhältnissen wie sie selbst kam und mit dem sie im Sommer 1961 mit Zelt und Paddelboot an die Mecklenburgische Seenplatte fuhr. Dort hörten sie am 13. August 1961 im Kofferradio vom Mauerbau in Berlin. Im Frühjahr 1963 bestand sie ihr Staatsexamen mit „Sehr gut“. Als sie ihre Doktorprüfung bestanden hatte, war sie noch nicht 24 Jahre alt. Die Trauung fand in der Leipziger Thomaskirche statt, in die Flitterwochen fuhren sie nach Mecklenburg. Danach folgte die einjährige Pflichtassistentenzeit am Kreiskrankenhaus in Suhl/Thüringen. Das, was sie dort lernte, war nicht nur für ihr Selbstverständnis als Ärztin wichtig. So erfuhr sie, dass manche Patienten, die als SED-Mitglieder in der Bezirkshauptstadt Suhl lebten und Beziehungen zum Regierungskrankenhaus in Ostberlin hatten, mit Westmedikamenten versorgt wurden, die normalen Patienten nicht zugänglich waren. Der gewitzte Chefarzt aber unterlief dieses Verfahren, indem er immer in Ostberlin die doppelte Menge bestellte und dadurch auch bei anderen Patienten Westmedikamente einsetzen konnte.
Nach der Ausbildung in Suhl folgte ein freiwilliges Jahr als Landärztin in der Umgebung, was natürlich mit Hausbesuchen verbunden war. Was sie dort an Erfahrungen sammeln konnte, reichte für ein ganzes Leben. Auch dem heutigen Leser, und das macht dieses Buch so wertvoll, dürfte dieser ernüchternde Einblick in die ärztliche Versorgung in der DDR-Provinz weithin unbekannt sein. In der Regel waren es alte, vereinsamte Menschen, die versorgt werden mussten und für die der Besuch des Hausarztes oft der einzige Gesprächskontakt am Tage war. Diese Patienten und ihre Angehörigen waren dafür so dankbar, dass sie Karin Sorger mit Würsten und Schinken aus der Hausschlachtung und mit Eiern vom Bauernhof versorgten.
Mitte Mai 1965 begann Karin Sorger, inzwischen fast 26 Jahre alt, als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Pathologie der Leipziger Karl-Marx-Universität zu arbeiten, während ihr Ehemann noch bis September am Kreiskrankenhaus in Suhl tätig blieb. Nach langer Wartezeit bekam das junge Ehepaar eine Wohnung mit nur anderthalb Zimmern in einem Gründerzeithaus. Da aber der Arbeitstag vom 8.00 Uhr morgens bis 20.00 Uhr abends oder noch länger dauerte, war die Wohnung nur zum Essen und Schlafen da. Am 17. November 1968 schließlich wurde die Tochter Natalie geboren, drei Wochen danach folgte die Facharztprüfung in Magdeburg. Über die unglaublichen Schwierigkeiten, Kind, Ehe und Beruf unter den bedrückenden DDR-Verhältnissen miteinander zu vereinbaren, berichtet sie auf mehreren Seiten. Dem westdeutschen Leser, der diese Sorgen in seiner wohlsituierten Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft nicht kannte, wird dieser Bericht aus dem Mangelsystem DDR wie eine Schilderung aus einem exotischen Land vorkommen. Ebenso eindringlich aber lässt sie den Leser wissen, wie nach dem Mauerbau jeglicher wissenschaftliche Kontakt zu Westkollegen in Westdeutschland, Frankreich, England, Amerika unterbunden wurde: Fachzeitschriften und Fachliteratur durften aus Devisenmangel nicht mehr bestellt werden, die Teilnahme an Fachkongressen wurde untersagt! Nicht nur die DDR-Medizin, auch andere Wissenschaftsdisziplinen versanken gnadenlos in einem staatlich verordneten Provinzialismus. 1972 reichte das Ehepaar Sorger schließlich die Scheidung ein.
Karin Sorger arbeitete weiterhin im Institut für Pathologie, leitete das Histologische Eingangslabor und wandte sich wissenschaftlich den entzündlichen Nierenerkrankungen zu. Dabei entdeckte sie immer wieder, dass „im Westen“ neue Arbeitsmethoden entwickelt wurden, die ihr unzugänglich waren. So reifte, auch durch die gescheiterte Ehe vorangetrieben, langsam der Plan in ihr, diesen in vielen Bereichen unfähigen und unzurechnungsfähigen SED-Staat zu verlassen. Schon vor Jahren, im Sommer 1968, war sie mit ihrem Ehemann durch Südböhmen gereist und hatte dort hautnah den politischen Aufbruch und die Begeisterung der Tschechen und Slowaken für den Reformkommunismus miterlebt und die Rückkehr nach Sachsen als Rückkehr in ein Gefängnis empfunden. Als sie dann im Frühjahr 1976 auf einer Dienstreise nach Ostberlin mit einem Kollegen in der Nacht nach Leipzig zurückfuhr, offenbarte er ihr seine Fluchtabsichten. Seit diesem nächtlichen Gespräch nahmen ihre Fluchtpläne konkrete Formen an, allerdings scheiterten dann beide Versuche, im Container-Lastwagen mit Hilfe von Fluchthelfern mit ihrer achtjährigen Tochter Natalie über die Grenze nach Westberlin zu gelangen: beim ersten Versuch erschien der Fluchthelfer nicht, beim zweiten Versuch wurde sie schon im Vorfeld von der „Volkspolizei“ festgenommen! Ihre Schilderung, wie sie das Weihnachtsfest und die Silvesterfeier wie immer vorbereiten musste, damit ihre Tochter nichts von der Fluchtabsicht merkte, ihr Gewaltmarsch bei eisiger Kälte durch den verschneiten Wald zur Autobahn, ihr von ständiger Angst begleitetes Warten, die Rückkehr in die eben verlassene Wohnung: Das alles löst beim Leser noch nachträglich einen Schauer aus!
Die Verhaftung erfolgte am Sonntag, 6. Februar 1977, als Karin Sorger  zu Fuß lediglich den Zugang zur Autobahn erkunden wollte. Zum Glück war ihre Tochter Natalie an diesem Wochenende beim Vater untergebracht und bekam nicht mit, wie ihre Mutter über Nacht verschwand. Zunächst wurde sie im Volkspolizeikreisamt Bitterfeld vernommen, dann erschien ein brüllender Offizier der „Staatssicherheit“, der sie bei Schlafentzug bis tief in die Nacht verhörte und ihr weder zu essen noch zu trinken anbot. Schließlich wurde sie nach Halle in den berüchtigten „Roten Ochsen“ überführt und zehn Tage später in die Untersuchungshaftanstalt in der Beethovenstraße nach Leipzig. Am 17. Mai 1977 wurde sie vom Kreisgericht Leipzig-Mitte zu anderthalb Jahren Strafhaft verurteilt. Nach der Verurteilung kam sie in das Leipziger Gefängnis in der Alfred-Kästner-Straße, wo die Sammeltransporte in die DDR-Zuchthäuser zusammengestellt wurden, und von dort mit dem „Grotewohl-Express“ (in einem Waggon der „Reichsbahn“) nach Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz 1953-90 hieß. Von hier fuhren Gefangenen-Busse nach Stollberg/Erzgebirge ins Frauenzuchthaus Hoheneck.
In Hoheneck, diesem „dunklen Ort“ (Buchtitel 2012), waren damals 1600 verurteilte Frauen untergebracht, darunter auch Mörderinnen und ehemalige KZ-Aufseherinnen. Sie produzierten im Drei-Schichten-System unter anderem Strumpfwaren für das ESDA-Werk in Thalheim/Erzgebirge, die in den Westen exportiert wurden. Karin Sorger schaffte ihre Norm nie und bekam im Monat nur zehn DDR-Mark Entlohnung, die sie in der HO-Filiale der Anstalt ausgeben konnte. Gegen Haftende machte ihr der Verbindungsoffizier der „Staatssicherheit“ schließlich das zweifelhafte Angebot, als Ärztin zu arbeiten. Als sie dann noch acht Wochen im Chemnitzer Gefängnis Kaßberg, von wo die Busse mit den freigekauften Häftlingen nach Wartha-Herleshausen an die innerdeutsche Grenze fuhren, warten musste, verlor sie jeglichen Mut, zumal die von Hoheneck mit ihr nach Chemnitz gekommenen Häftlinge längst abgereist waren und man ihr angedroht hatte, die inzwischen fast neun Jahre alte Tochter nicht mitausreisen zu lassen. Auf diese und andere Weise haben die DDR-Behörden 1949-89 Zehntausende von Familien zerstört.  Am 18. November 1977 fuhr sie endlich mit dem Häftlingsbus über die thüringisch-hessische Grenze und traf abends im Aufnahmelager Gießen ein.
Was jetzt begann, dieser unvorstellbare Rausch der Freiheit, nennt Karin Sorger in ihrem Buch „mein zweites Leben“. Sie war 38 Jahre alt, als sie die Grenze überschritt und musste in Westdeutschland völlig neu anfangen. Aber sie hatte langjährige Freunde aus DDR-Zeiten, an die sie sich nun erinnerte, zum Beispiel in Idstein/Hessen, die sie anrief, und dort wurde sie weitervermittelt an andere Freunde bei Kiel. Es entstand eine wahre Lawine der Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Vor allem musste sie erzählen, von ihrem Schicksal und vom Umgang mit Menschen im Sozialismus, dann wollte sie reisen, die neu erschlossene Welt sehen, hören, riechen, schließlich wieder an einer Universität unterkommen. Stellenangebote von Universitäten und Instituten bekam sie mehrere. Sie entschied sich für das Institut für Pathologie an der Universität Mainz.   
Mit ihrem geschiedenen Mann in Leipzig und ihrer dort lebenden Tochter, deren Ausreise sie sehnlichst erwartete, hatte sie längst Kontakt aufgenommen und erfuhr dann offiziell, dass der Übergabetermin für den 9. März 1978 um 10.00 Uhr im Leipziger Rathaus vorgesehen wäre. Da sie mit dem Zug einreiste, musste sie bereits vor Mitternacht in Frankfurt am Main abfahren, um gegen 6.00 Uhr morgens in Leipzig anzukommen. „In jener Nacht konnte ich nicht schlafen und ging ab und zu aus dem Abteil auf den Gang, weil die Angst mir zuweilen die Luft nahm.“  In Leipzig wurde sie von ihrem ehemaligen Mann am Hauptbahnhof abgeholt und in dessen Wohnung gebracht, wo ihre Tochter Natalie sie mit Jubelschreien und Tränen empfing. Karin Sorger hatte, auch das muss erwähnt werden, unglaubliches Glück, dass ihre Tochter am besagten Sonntag vor der geplanten Flucht in der Wohnung des Vaters war und deshalb nicht in ein Kinderheim kam mit dem Ziel der Zwangsadoption. Hunderten von DDR-Frauen, die Fluchtversuche unternommen hatten, ging es anders: Ihre schreienden und weinenden Kinder wurden ihnen weggenommen und durch jahrelange Erziehung bei staatstreuen Eltern ihrer Ursprungsfamilie entfremdet. Katrin Behr schrieb darüber das Buch „Entrissen. Der Tag, als die DDR mir meine Mutter nahm“ (2011).
Am 1. April 1978 begann für Karin Sorger die Arbeit an der Universität Mainz. Trotz der Freude über den neuen Arbeitsplatz mit den ungeahnten Möglichkeiten wissenschaftlichen Arbeitens musste sie aber auch feststellen, dass im Westen nur wenige über die Zustände im SED-Staat Bescheid wussten. Entschädigt wurde sie freilich dadurch, dass die Voraussetzungen für die medizinische Forschung in Mainz, verglichen mit denen in Leipzig, ideal waren. Ihr Habilitationsverfahren verlief ohne Komplikationen, im Januar 1985 wurde sie zur Privatdozentin, im Herbst 1987 zur Professorin ernannt. Ihre Tochter Natalie war inzwischen von der Grundschule auf das altsprachliche Rabanus-Maurus-Gymnasium in der Mainzer Altstadt übergewechselt, und sie war konfirmiert worden. Das Abitur bestand sie im Juni 1988 und begann, an der Semmelweis-Universität in Budapest Medizin zu studieren, was sie in Berlin fortsetzte. Heute lebt sie als Ärztin in München.
Nach der Habilitation erfüllte sich Karin Sorger einen Lebens­traum: Sie besuchte dieVereinigten Staaten, um vor Kollegen Vorträge über ihr Fachgebiet Pathologie zu halten. Auch hier staunte sie über die technische Ausrüstung der Labore und Forschungsinstitute, vor allem aber darüber, wie offen und zwanglos die Wissenschaftler miteinander und auch mit Ausländern umgingen. Die Hauptstadt Washington und die Millionenstadt New York an der Ostküste wurden, nachdem auch Natalie aus Mainz nachgereist war, ausgiebig erforscht. Namen wie Empire State Building, Fifth Avenue, Brooklyn und Manhattan, die Freiheitsstatue an der Hafeneinfahrt, die in Leipzig und Hoheneck unerreichbare Sehnsuchtsorte geblieben waren, nahmen nun Gestalt an: Es gab sie wirklich, und sie lagen nicht auf dem Mond!
Einige Wochen nach der amerikanischen Reise, von der sie und Natalie begeistert nach Mainz heimgekehrt waren, durfte plötzlich ihr ehemaliger Mann, der mit seiner Frau in Leipzig lebte, zum 80. Geburtstag seiner Tante nach Offenbach fahren. Es schien, als wären auch die DDR-Behörden, wo es mit dem Staat zu Ende ging, einsichtiger und zugänglicher geworden, was die Reisewünsche ihrer Bürger betraf. Auch als Mutter und Tochter über Weihnachten 1986 polnische Freunde in Gdingen/Gdynia besuchten, durften sie mit dem Zug die wirtschaftlich ausblutende DDR durchqueren, um in Berlin-Lichtenberg umzusteigen. Als sie am Bitterfelder Industrierevier vorbeifuhren, das Monika Maron in ihrem Roman „Flugasche“ (1981) so drastisch beschrieben hatte, und Abraumhalden, verfallende Häuser, tiefe Schlaglöcher in den Straßen sahen, waren beide froh, diesem Albtraum entkommen zu sein. Silvester 1987 sogar, zwei Jahre vor dem Mauerfall, bekam Karin Sorger, wider Erwarten, die Erlaubnis zur Einreise nach Braunsdorf bei Dresden zu Freunden. Im Sommer 1989 schließlich, als sich die DDR-Bürger nach vier Jahrzehnten Unterdrückung gegen die Willkürherrschaft ihrer Regierung zu wehren begannen, wurde der Hunger nach Freiheit noch stärker. Aber auch das kommunistische Ungarn gewährte seinen Bürgern auf Jahrzehnte entbehrte Freiheiten. Der Autorin fiel dies sofort auf, als sie im August 1989 ihre Tochter zum Studienbeginn nach Budapest begleitete, wo Straßen und Plätze von ausreisewilligen DDR-Bürgern überschwemmt waren, nachdem die ersten am 19. August zu Hunderten am Neusiedler See über die Grenze nach Österreich geflüchtet waren.
Beruflich begann sich Karin Sorger nach Auszug der Tochter neu zu orientieren und bewarb sich auf eine Stelle als Chefärztin an der „Klinik am Eichert“ in Göppingen, die dem Landkreis unterstand. Als einzige weibliche Bewerberin wurde sie auserwählt und trat die neue Stelle im Frühjahr 1989 an. Während der Zeit in Göppingen suchte sie nach ihrer leiblichen Mutter, die, inzwischen 74 Jahre alt, damals in Braunschweig wohnte. 
Die Kämpfe um das Haus ihrer Eltern in Magdeburg, das ihr eigentlich nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1989 „rückübereignet“ werden sollte, was dann an bürokratischen Hürden scheiterte, sind ein besonderes Kapitel deutscher Teilungsgeschichte. Auch wenn Karin Sorger, die immer noch in Süddeutschland lebt, von Reisen innerhalb Deutschlands und in die weite Welt nicht genug bekommen kann, so bleibt sie doch der Stadt Mainz, die sie 1978 aufgenommen hatte, als es ihr schlecht ging, sehr verbunden. Sie beendet ihr Buch mit einem Zitat des griechischen Staatsmannes Perikles: „Das Geheimnis des Glückes ist die Freiheit …“.

Jörg Bernhard Bilke            Coburg, im März 2016

Rezensionen:


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